19th March
Ein Naturwissenschaftler reist mit
einer Kreativen. Mann mit Frau. Einer, der von sich selbst
behauptet, eine ausgeprägte Tendenz zur Unpünktlichkeit zu haben mit
einer, deren zweiter Vorname Ungeduld ist. Immer ein wenig
getrieben, in Eile, auf dem Sprung – solange sie nichts und niemand
zur Ruhe bringt. Angetrieben von einer Sehnsucht, von der sie nicht
einmal weiß, was sie ersehnt. Die sie als Ankommen bezeichnet.
Längst haben Klaus und ich inzwischen zu
bestimmten Abläufen gefunden. Einer gewissen Routine. Wenn wir das
Hotel oder Motel erreichen, wenn wir es wieder verlassen, in unserem
täglichen Miteinander. Wir ergänzen uns gut. Einer denkt immer – der
andere meistens mit. Es ist schön, in dieser Weise entlastet zu
werden. Selten musste mich um so wenig kümmern. Darf immer wieder
loslassen. Mich verlassen. Die Zügel aus der Hand geben. Und es wird
für mich gesorgt. Dafür, dass die Dinge laufen. Und sie laufen. Ganz
ohne mich. Ich genieße das absolut.
Allerdings existiert inzwischen auch
ein heiliges 'Streitobjekt': Sein Handy. Jenes Ding, das sich nach
unserer Ankunft in NY schon fast verloren glaubte – und sich am
Folgetag dann doch wiederfand. Inzwischen hat es sich meine saftige
Antipathie eingeheimst, dieses Etwas - ich bin noch damit begriffen,
die Vorzüge, die es uns zweifellos gewährt, gebührend anzuerkennen.
Allmorgendlich wiederholt sich nämlich
folgendes Szenario: Wir sitzen im Auto und ich warte auf das
Geräusch von Zündung und startenden Motors. Und was höre ich
stattdessen? Klaus' Worte: 'Ich muss noch navigieren!' Oh, no. Bitte
nicht das.
Und an dieser Stelle kommt besagtes
Handy ins Spiel.
Wir nutzten Google Maps via Cellphone
und kein herkömmliches Navi - dies hätte uns bei Anmietung 300 USD
zusätzlich gekostet. Dies aber bedeutet einerseits, dass das Handy
die Straßenkarten immer wieder nachladen muss - ganz abgesehen von
den grundsätzlichen Ladezeiten – und andererseits, dass der
Bildausschnitt auf dem Display immer wieder manuell auf den
aktuellen Standort verschoben werden will. Was Klaus nicht nur vor -
sondern auch während des Fahrens tut. Was mich maximal nervös werden
lässt. I hate it. Um genau zu sein. Wünsche mir ein entspanntes
Fahren. Denke mir: Können wir nicht einfach nach Karte, Bauch und
Schnauze fahren? Mache ich doch sonst auch so. Und gelange ans Ziel.
Früher oder später. Meistens zeitgleich. Unter Umständen eben mit
etwas mehr Umwegen. Dafür oft reicher an überraschendem Eindruck.
Manchmal auch ärmer um ein paar Nerven. Aber immerhin in Bewegung.
Das liegt mir mehr.
Da die Vorzüge dieser vorausschauenden
Planung aber mitunter nicht von der Hand zu weisen sind, übe ich
mich in Gelassenheit. Ignoriere, wenn sich erneut Wut und Hitze in
meinem Bauch zusammenbrauen, weil alle meine Zeichen auf Starten
stehen. Ich aber warten muss. Beschäftige mich mit etwas anderem.
Nutze die Zeit. Klaus hingegen hat meine Ungehaltenheit
inzwischen bereits aufgenommen - und versucht seinerseits bereits zu
navigieren, während ich noch mit Vorbereitendem beschäftigt bin. Und
nicht, wenn wir bereits im Auto sitzen.
Wir gehen aufeinander zu. Machen
jeweils Abstriche an ausgesuchten Stellen - und hoffen auf maximalen
Zugewinn. Und ich glaube, es funktioniert.
Washington D.C. sollte heute auf dem
Reiseplan stehen. Eine innere Boykotthaltung habe ich im Vorfeld
gegen diese Stadt entwickelt. Keine Ahnung, weshalb. Uni sono hatten
wir beschlossen, nicht allzu viel Zeit in den Besuch von Washington
zu investieren und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Klaus
amüsiert sich indessen darüber, mich in besagter Antihaltung durch
die City stapfen zu sehen. Begleitet von fortwährendem, leisen Gemaule und mit der Einstiegsfrage: 'Und – wo ist jetzt der ganze
Shit? Come on, Mr. President – wir haben keine Zeit!'
Letztlich drehen wir eine Runde durch
das Regierungsviertel, bestaunen das Weiße Haus – wobei es ein Ding
der Unmöglichkeit ist, ein Foto davon zu schießen – ohne dabei
zwangsläufig Artfremdes mit auf dem Bild zu haben – sprich
mindestens 20 andere Touristen - das Capitol, usw. Wir nehmen in der
Sonne in einer idyllischen Parkanlage unser zweites Frühstück ein –
bestaunen die beginnende Blüte der unzähligen Kirschbäume in dieser
Stadt – lesen etwas über die Geschichte von Washington – und setzen
schließlich unsere Fahrt fort. Gettysburg heißt das nächste Ziel an
diesem Tag – das Battle Field der entscheidenden Schlacht im
Amerikanischen Bürgerkrieg, auf dem unzählige Männer ihr Leben
ließen.
Auf dem Weg dorthin soll mich eine
bleierne Schwere überfallen und ich verbringe fast die gesamte
Fahrt im Halbschlaf. Klaus fährt. In Gettysburg angekommen, steuern
wir zuallererst das Visitors Center an. Zu dem Zweck, dort
Informationen und eine Einführung in die Materie zu erhalten – und
ab hier an ist alles Magie.
Abgesehen von Bustouren über das
einstige Schlachtfeld, die hier angeboten werden – beherbergen sie
im Visitors Center ein Museum und zeigen einen Film über die
Ereignisse der damaligen Zeit – eine lohnende Informationsquelle,
wie wir denken, die wir gerne für uns nutzen wollen. Wir sollen
exakt die letzte Vorstellung an diesem Tag erwischen. Am
Ticketschalter überrascht uns der Verkäufer - ein älterer
Amerikaner, der offensichtlich in Deutschland stationiert gewesen
ist - mit der Aussage, uns die Tickets schenken zu wollen. Er beginnt
ein Gespräch mit uns, fragt, woher wir kommen, wohin wir reisen
– und gibt uns zum Abschied ein mehrmals wiederholtes 'Take care!' mit auf den Weg. Noch eine Viertelstunde Zeit verbleibt uns,
um das Museum vor Beginn der Filmvorführung zu besichtigen.
Als ich es betrete, finde ich mich
direkt vor der lebensgroßen Figur eines Mannes in einer der damaligen Uniformen –
und breche innerlich zusammen. Tränen beginnen, mir über das Gesicht
zu laufen. Ich weiß nicht, was hier geschieht. Verstehe es in keiner
Weise. Bin einfach überwältigt.
Ich habe mich mit dem Besuch von
Gettysburg im Vorfeld nicht beschäftigt. Habe keine Vorstellung
entwickelt von diesem Ort. Was mich hier erwarten würde. Es ist
einfach eine weitere Etappe auf unserer Reise. Eben irgendein
Schlachtfeld, das offensichtlich große Bedeutung für die Amerikaner
hat. That's it.
Eigentlich. Denn hier nun, in diesem
Moment, stehe ich im Museum des Gettysburg Battle Fields – vor einer
Männerfigur in Uniform – und weine. Weiß tief in mir, dass ich
einst jemanden im Krieg verloren habe. Dass ich einen Mann in
Uniform in den Krieg verabschiedet habe – der niemals wiederkehren
sollte. Ich weiß nicht, ob hier oder anderswo. Aber in
diesem Augenblick bin ich die Frau von damals.
Abgesehen von den leisen Tränen und
der inneren Erschütterung soll meine Verfassung allerdings vorerst
nach außen unsichtbar bleiben. Ich reiße mich am Riemen. Während der
Filmvorführung laufen mir weiterhin Tränen die Wangen hinab – und
ich nehme mir vor, mich im Anschluss kurz in den Restroom
zurückziehen. Um meine Fassung zurückzuerlangen. Denn ich bin der
Meinung, so geht das nicht.
Aber dazu soll es nicht kommen. Die
Gewalt der Emotionen ist mächtiger - und als wir aus dem Vorführsaal
hinaustreten – breche ich unversehens in ein heftiges Schluchzen aus.
Vorbei ist es mit meiner Fassung. Scheinbar jahrhundertealte Trauer
bahnt sich ihren Weg in die Freiheit. Mit aller Urgewalt. Ich
schwöre, ich habe keine Ahnung, was hier geschieht. Es geschieht
einfach. Ich bin machtlos dagegen. Bin mein eigener Zuschauer.
Zeitgleich taucht die Sicht, die wir
damals auf den Krieg gehabt haben, wieder in mir auf. Vollkommen
abweichend von dem, was ich heute im Bewussten trage. Was es
faszinierend macht.
Unsere Sicht war damals diese: Wir
wollten keinen Krieg. Wir hatten ihn nicht begonnen. Und dennoch war
es für uns keine Frage, einem gewalttätigen Angriff auf unsere
Ideale entschlossen entgegenzutreten. Im Zweifelsfall für sie zu
sterben. Denn wir wollten uns nicht ausmalen, wie eine Zukunft
aussähe, wenn wir zwar leben - aber unsere Ideale sterben müssten.
Wenn Unterdrückung, Leid und Elend zur Tagesordnung wurden -
Normalität und Ausweitung erlangten. Dem konnten wir nicht tatenlos
zusehen.
Es ging um eine Idee. Die Idee von
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Und diese Idee war
größer als wir. Sehr viel größer. Sie würde eine Zukunft prägen, die
uns überdauern würde. Dies trugen wir im Geiste.
Die Tode der Geliebten waren
persönliche Tragödien - und dennoch gab es kein Hadern mit dem
Schicksal. Es gab für uns keine Alternative, wenn es um das
Unausweichliche ging. Wir standen Seite an Seite für unsere Idee -
auch wenn wir dafür sterben würden - und bis über den Tod hinaus.
Miteinander vereint - auf ewig - in unserem Ideal.
Irgendwie so. Ich kann es nicht anders
beschreiben. Nur fühlen.
In jedem Fall weiß ich inzwischen
eines: Diese Reise ist größer als ich. Sie trägt eine Intention in
sich, die ich in Gänze nicht erfassen werde. Sondern lediglich
beschränkt auf die Perspektive meines menschlichen Seins. Ich
akzeptiere es.
Ellis Island, Germantown, Gettysburg –
ich frage mich, auf wessen Spuren ich hier wandle. Ob es meine
eigenen sind – die eines anderen – oder die vieler anderer.
Kollektive Felder, die hier verortet sind. Und die ich spüre. Ich
weiß es nicht. In jedem Fall überkommt mich an jedem dieser Orte eine
Gänsehaut, Schauer durchlaufen meinen Körper – und ich spüre die
Präsenz von etwas, das ich nicht benennen kann.
Als wir das Visitors Center verlassen
und es um die Besichtigung des Battle Fields gehen will, äußere
ich den Wunsch, den Friedhof zu besuchen. Als wir dort parken,
fragt mich Klaus, ob ich nicht alleine gehen wolle – er würde
indessen hier auf mich warten und in der Zeit etwas essen – ich bin
ihm dankbar dafür. Mein Gang durch den Friedhofspark führt mich
einmal rund um das Gelände – vorbei an den Gräbern der alten Zeit
und Denkmälern – es hat angefangen zu regnen – es riecht nach nassem
Grün und Erde – und meine Tränen vermischen sich mit dem Regen. Es
ist zauberhaft. Es herrscht Ruhe und Frieden.
Just in dem Moment, als ich zum
Ausgang hinauslaufe und meinen Fuß über die Eingangsschwelle setze,
fährt ein Bus vor, der eine lärmende Reisegruppe ausspuckt. Die sich
nun anschickt, den Friedhof zu bevölkern. Eine halbe Stunde auf dem
Friedhof ist mir für mich alleine geschenkt worden. Ich bin dankbar
dafür.
Ich gehe zurück zum Auto und zu Klaus.
Wir machen uns zur Weiterfahrt bereit. Es gibt kein Gespräch über
diesen Moment. Nicht über Gettysburg, nicht über meine Tränen, nicht
darüber, was geschah. Nicht in diesem Moment. Und nicht später. Er
fragt nicht – und ich empfinde meinerseits kein Bedürfnis es zu
teilen.
Ich habe keine Ahnung, worunter er das
für sich abgespeichert hat. Vielleicht denkt er, ich hätte meine
Tage oder dergleichen – vielleicht, mir wäre der Film äußerst nahe gegangen –
vielleicht ist es für ihn auch schlicht eine jener weiblichen
Untiefen, die einem Mann verschlossen bleiben müssen. Die er nicht
ergründen, sondern in denen er nur halten kann. Vielleicht denkt er
auch gar nichts.
Es spielt keine Rolle.
Tatsache bleibt: Offensichtlich muss
er es nicht verstehen. Sondern kann es einfach sein lassen.
Dafür bin ich ihm dankbar.
Dankbar bin ich auch dafür, dass ich
dieses erleben durfte:
Ein Wunder.
Die Membran zwischen Himmel und Erde,
zwischen Gestern und Heute, ist inzwischen durchlässiger für mich
geworden.
Ich staune. Und lerne.