27th March


 

Die Luft zwischen uns ist zum Schneiden dick. Ich habe in der Nacht kaum und äußerst unruhig geschlafen. Aggressionen fluktuierten wild in der Luft herum, scheinbar herrenlos, und doch in ihrer Herkunftsadresse unverkennbar - und ebenso eindeutig gegen mich gerichtet. Am Morgen fühle ich mich krank und geschwächt. Dieser Typ geht mir echt auf den Senkel. Und wenn er millionenfach ein freundliches Gesicht und seine Höflichkeit bewahrt - er hat Aggressionen. Und zwar ziemlich heftige. Der einzige Unterschied zwischen ihm und einem weniger wohlerzogenen Menschen ist damit jedoch bewiesen. Denn er besteht nicht darin, dass er weniger Aggressionen hätte. Sondern lediglich darin - dass er sie nicht äußert. Dies jedoch lässt diese Gefühle hochgradig unangenehm werden. Und ihr unbedingtes Eigenleben entwickeln. Phantastische Angelegenheit.

 

Vor geraumer Zeit begegnete ich einmal dem Satz, dass es genau diejenigen Eigenschaften eines Gegenüber sind, die einem am Anfang am allermeisten imponieren - und zwar in ihrer Abweichung und Andersartigkeit - die einem später am allermeisten auf die Nerven gehen. In meiner Erfahrungswelt hat sich diese Aussage oft bestätigt. Und sie bestätigt sich auch hier: Seine Höflichkeit, Anständigkeit und Wohlerzogenheit kotzen mich inzwischen an. Und zwar total. Vor allen Dingen wohl aber deshalb, da ich sie nicht länger als authentisch erlebe.

 

Wie sehr würde ich mir gerade wünschen, dass er mich anschreit, beleidigt, emotional, unsachlich wird - sich schlicht ungeschminkten Ausdruck verleiht. Solange Dampf ablässt, bis kein Druck mehr vorhanden ist. Damit wir anschließend wieder gemeinsam klare Luft atmen können. Wie sehr würde ich mir wünschen, dass er durchblicken ließe, wie es wirklich in ihm aussieht. Damit ich es nicht erraten muss - oder es unausgesprochen zwischen uns steht. Ich kann damit nicht umgehen. Mit dieser Unwirklichkeit und Beherrschung.

 

Klaus ist indessen scheißfreundlich wie immer. Als wir uns allerdings zum Aufbruch bereit machen und unser Gepäck ins Auto laden - trägt er erstmalig nicht meinen Koffer. Hallelujah. Premiere. Aber was für eine zweifelhafte. Tatsächlich wird er mir dabei zuschauen, wie ich über meine eigenen Füße stolpere, und mich fast langlege, während ich den Koffer die Stufen hinabhieve. Ein Moment, in dem jeder andere spätestens - und gleichfalls der, der ansonsten NICHT meine Koffer trägt - sicherlich eingegriffen hätte. Denn keinesfalls bin ich einen Kofferträger gewohnt. Aber siehe da. Plötzlich kann er mir ohne mit der Wimper zu zucken bei meinen Mühen zuschauen. Plötzlich verträgt sich das mit seiner Ethik. Der hochgelobten. Unabhängigen. Sachlich-fundierten. Sehr interessant.

 

Ärger steigt in mir auf und mit ihm der bissige Kommentar: 'Könntest du mir bitte verraten, an welche Bedingungen das Koffertragen nun schon wieder geknüpft war? Und: An welchem Punkt exakt ich es verspielt habe?' - aber ich kann ihn gerade noch hinunterschlucken - und gebe dem Impuls nicht nach. 'Keep cool, Saskia', beschwöre ich mich selbst, 'reiß dich zusammen und schau dir die Sache noch ein paar Tage an - bevor du das Ding zersprengst.' Denn eines ist sicher: Zersprengen würde ich es. Im nächsten Schritt. Und zwar radikal. Denn mir ist das einfach zu blöd. Diese Maskerade an Sittsamkeit. Die mir nun so aufgesetzt und unehrlich erscheint.

 

Auch auf der Fahrt bessert sich die Stimmung nicht. Wir schießen gedanklich Giftpfeile in die Richtung des jeweils anderen - die Atmosphäre ist ätzend.

 

Ich stelle mir die Frage, wie das mit uns beiden weitergehen soll. In unserer Weiterfahrt. Und kann sie mir nicht beantworten. Ich habe schlicht keine Ahnung. Hoffe allerdings, dass wir es wenigstens bis LA schaffen werden. Denn dort würden wir dann zwar zusammen wohnen, aber könnten uns darüber hinaus verstärkt aus dem Weg gehen. Ich würde es begrüßen, wenn wir bis dahin Mittel und Wege für uns finden. Und dennoch: Meine Seele verkaufen werde ich dafür nicht. Im Zweifelsfall scheitern wir halt.

 

Meine Zeit vertreibe ich mir unterdessen so: Seitdem er so drastische, urteilende Kritik an mir übte, studiere ich unsere Kommunikation. Und studiere ihn. Selbst schuld.

 

Mir fällt auf, wie indirekt er sich in seinen Aussagen und Bedürfnisäußerungen verhält. Und dass ich sie als solche oftmals schlicht nicht erkenne.

 

Was bei ihm beispielsweise die Frage bedeutet: 'Wie lange möchtest du voraussichtlich noch fahren?' - und im nächsten Schritt: 'Wäre es vielleicht möglich, dass wir vorher noch einmal anhalten? Du wolltest doch auch etwas essen. Hast du noch Hunger?' - heißt bei mir schlicht und einfach: 'Ich muss mal aufs Klo.'

 

Oder er fragt mich: 'Wollen wir jetzt noch den Berg hinaufspazieren - oder nicht? - Ich entgegne: 'Mir ist beides recht. Was meinst du - hast du Lust?' - wird seine Antwort sein: 'Wenn du den Berg hinaufspazieren möchtest, dann habe ich keine Probleme damit.'

 

Okay. Alles klar. Oder auch nicht...

 

So geht das in einer Tour. Das Problem zwischen uns dabei ist: Während er bereits bei den leisesten Anzeichen zu ergründen versucht, was ich wohl wollen könnte - häufig, ohne, dass ich dies überhaupt mitbekomme - oder von ihm erwarte - bekommt er von mir zumeist lediglich Antworten auf die Fragen, die er stellt. Seine Bedürfnisse bleiben indessen häufig unberücksichtigt. Denn ich erkenne sie nicht.

 

Wenn er mich demnach fragt, wie lange ich noch fahren möchte. Gebe ich ihm Antwort: Wie lange ich noch fahren möchte. In der Erwartung, dass er seine eigenen Bedürfnisse in selber Weise kundtut. Um daraufhin einen Abgleich und Konsens zu schaffen.

 

In unserer Konstellation dominiere ich ihn somit. Das ist natürlich unschön für ihn.

 

Und ein weiterer Punkt kommt erschwerend hinzu: Meine unterschiedlichen Facetten bereiten ihm Probleme. Er liebt mich, wenn ich gut drauf bin. Und er hasst mich, wenn ich schlecht drauf bin. Oder eine Seite zeige, die ihm unberechenbar erscheint, gefährlich, unbeherrschbar. Das kann ich verstehen. Er darf mich hassen. Nicht zuletzt hasse ich mich selbst gelegentlich. Und dennoch: All diese Eigenschaften gibt es nur im Paket: Hell und dunkel gehören untrennbar zusammen. Das eine existiert nicht ohne das andere. Er kann mein Lachen nicht haben - wenn er nicht auch mein Weinen akzeptieren kann.

 

Während die Stimmung demnach auf dem absoluten Tiefpunkt verweilt, arbeiten wir uns meilentechnisch kontinuierlich voran. Wir machen Rast am Devils Tower, einem beeindruckenden Monument, das die Natur erschaffen hat, den Indianern heilig war und in Steven Spielbergs 'Unheimliche Begegnung der dritten Art' Eingang gefunden hat, überqueren einen 3.000er, die Big Horn Mountains, denn unglücklicherweise stehen sie uns im Weg - und stoßen schließlich auf Schnee.

 

Und plötzlich gibt es diesen Moment. Die Stimmung schlägt unversehens um. Ich spüre förmlich, wie es 'Klick' macht. Seine Aggressionen sich unvermittelt vom Kopf zurück in den Unterleib verlagern. Ich weiß nicht, wodurch ausgelöst. Durch einen Song im Radio, einen gehegten Gedanken - oder die grandiose Landschaft, die sich uns mit einem Mal eröffnet. Aber das Klima zwischen uns verändert sich. Schlagartig. Die Luft wird wieder klar.

 

Wir fahren weiter bis nach Cody, der Stadt, die einst Buffalo Bill gründete, und über den 'Buffalo Bill Cody Scenic Byway' - einer imposanten Strecke, der Theodore Roosevelt den Namen 'Most scenic 52 miles in America' verpasste - bis zum Osteingang des Yellowstone Parks - welcher Eingang allerdings zu dieser Jahreszeit verschlossen ist - und zurück nach Cody.

 

Anschließend checken wir ein im Motel.

 

Am Abend soll ich ein Lob von ihm erhalten. Mit Auszeichnung. Und Bienchen.

 

Er sagt zu mir: 'Saskia, ich muss dich wirklich einmal loben. Du warst heute den ganze Tag sehr lieb.'

 

Danke, Papi.

 

Papi hat mich wieder lieb.

 

Bezeichnend, dass ich in dieser Nacht von einem schneeweißen Kätzchen träumen werde, das entzückend ist - und stinkt.

 

Kurios, dass mich am nächsten Morgen, als ich die Lobby betrete, ein großer, schneeweißer Hund begrüßen, an mir hochspringen, und mir die Hände lecken wird.

 

Seltsam, dieses Leben.

 

Aber immerhin: Klaus trägt wieder meinen Koffer.

 

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© 2o12, Saskia Katharina Krost