Und dennoch:
Meine Welt erscheint mir zu klein geworden. Zu eng. Und zu statisch. Ich fühle mich nicht
glücklich.
Nicht zuletzt suche ich unverändert nach Richtung und Perspektive. Zwar hat mir
die Reise bewusst werden lassen, was es ist, das mich hält und
meinem Dasein Sinn wie Erfüllung verleiht: Das Reisen. Ich möchte unterwegs
sein. Neues sehen. Staunen. Lernen.
Leben.
Schreiben. Dasein und Bewusstsein erforschen. Menschen
ergründen. Individuen begegnen. Allerdings benötigt
es aus diesen Zutaten nun noch ein Leben. Und das habe ich noch
nicht. We will see. Auch an dieser Stelle.
Kurios, dass ich auszog, mit der tiefen Sehnsucht eines Ankommenwollens. Und
nun zurückkehre mit der Sicherheit, dass es das
Unterwegssein ist, dass mir Sinn und Inhalt für mein Leben verleiht.
Doch nicht nur das habe ich über mich gelernt.
Gelernt habe ich auf dieser Reise noch etwas: Über die Relevanz und
Wirkkraft von Umgebungen. Mittels dieser Reise, auf der wir so
häufig und rasch unsere Standorte wechselten, wurde mir äußerst
deutlich, welchen Einfluss ein Umfeld in seiner Energie und
Beschaffenheit auf uns nimmt. Auf das eigene Empfinden, Denken und Erleben.
Einen enormen. Immer wieder ereignete es sich, dass ich mich
innerhalb weniger Stunden oder eines Tages als ein anderer Mensch
fühlen sollte. Im guten, ebenso wie im schlechten. Schlichtweg
dadurch, dass
wir in der Zwischenzeit Standort und Umgebung gewechselt hatten.
Andere Orte, andere Menschen, andere Energien um uns hatten.
Nicht nur wir selbst. Auch unsere Umgebung vermittelt uns eine
Definition unserer selbst. Lässt uns fühlen, wie wir fühlen. Denken,
wie wir denken. Sein, was wir sind.
Daher ist es wichtig, womit wir umgeben sind.
Wo wir uns aufhalten.
Es kann unser persönliches Erleben verändern. Unseren
Selbstausdruck. Unsere Charakteristik. Unser Glück und unser
Wohlbefinden. Es kann uns groß werden lassen. Oder klein. Befreien. Oder
einkerkern.
Dies ist mir nun verstärkt bewusst.
Das aber lässt die Frage nach meinem eigenen Standort, nach meinem
persönlichen Platz und meiner Verankerung lauter für mich werden. Vermehrt in den Mittelpunkt rücken.
Ich habe erfahren, wie unterschiedlich ich mich fühlen kann. Und ich
möchte mich glücklich fühlen. Auf Reisen fühlte ich mich immer
wieder glücklich.
Momentan fühle ich mich das nicht.
Es gab da diesen kleinen Moment auf dem Weg vom Flughafen nach
Kreuzberg. Wir fuhren eine Straße kurz vor der heimatlichen Wohnung
entlang, Freitagabend, eine Gruppe Jugendlicher stand vor einem
Kiosk, auf dem Weg, das Berliner Nachtleben unsicher zu machen.
Einer von ihnen trug einen Leitkegel auf dem Kopf. Wie
selbstverständlich. Als Hut. Niemand, der weiter Notiz davon nahm.
Geschweige denn, dem Einhalt gebieten würde.
Ein Bild, das ich in Los Angeles sicher vergeblich gesucht hätte. Das
aber ist es, womit ich mich aus tiefstem Herzen identifiziere -
in Berlin ist man frei. Frei, individuell zu sein. Frei zu sein, tun
oder lassen, was man möchte. Zumindest relativ. Frei.
Ich bin mit Leib und Seele Berlinerin. Und werde es
auch immer bleiben. Das steht fest.
Und trotzdem gibt es da dieses Gefühl des Überdrusses. Das Gefühl, für
diesen Moment an diesem Ort alles gesehen und erlebt zu haben - jeden Stein
gedreht und gewendet - diesen Ort in- und auswendig zu kennen.
Gepflastert mit Erinnerungen - Schicht um Schicht - gute wie
schlechte. Dazwischen kaum noch ein Quadratzentimeter, der mir
jungfräulich und unbedarft erscheint. Teils mutet es mir an, als
bestünde dieser Ort nur noch aus verbrannter Erde.
Kein gutes Gefühl.
Gleichzeitig fühlt es sich an, als sei mein gewohnter Radius zu klein für mich
geworden. Als bräuchte ich einen größeren. Um
mich ausdehnen. Aus empfundener Enge hinaus. In die Welt hinein.
We will see. Ich formuliere es zum dritten Mal.
Meine gewohnte Komfortzone gestaltet sich inzwischen nicht
länger als komfortabel. Sie nimmt mir vielmehr die Luft.
Also packe ich meine Koffer und verlasse sie erneut. Noch nicht
einmal eine Woche nach meiner Rückkehr aus den Staaten mache ich
mich auf den Weg.
Übe mich ein weiteres Mal in Beherztheit und Waghalsigkeit, in der
Aufgabe, meine eigenen Grenzen zu dehnen und auszuweiten. Die Vernunft zwar
Ratgeber - aber nicht länger Kerkermeister spielen zu lassen.
Und fahre nach Paris. Für ein Treffen mit Mark.
25th-29th April
Noch in Los Angeles habe ich einen Parisaufenthalt gebucht. 'Warum auch nicht', habe
ich mir gedacht. Verspüre kaum Lust, nach Berlin zurückzukehren,
sowie Traurigkeit bei dem Gedanken, dass diese Reise nun vorerst ein
Ende nehmen soll. Weshalb also nicht gleich wieder die Koffer packen? Dem
eigenen Ruf folgen, dem Herzen - den Fokus somit auf das Positive
richten -
vorwärts - auf die nächste Reise - und nicht
rückwärts, im Abschied, geleitet von Frustrationen.
Ein kleiner Aufschub noch, eine kleine Verlängerung, ein kleiner
Epilog - bevor ich mein Leben grundsätzlich
werde
ändern müssen - und den Parametern meiner Sehnsüchte
anpassen möchte. Oder - bin ich vielleicht sogar schon mittendrin?
Dabei, das Leben meiner Passionen zu leben? Indem ich
einfach reise? Weiter-reise? Denn dies ist es, was mein Herz sich wünscht.
Ich freue mich auf Paris. Werde dieser Stadt das erste Mal begegnen.
Was meiner Abenteuerlust optimale Befriedigung verschafft. Ich
wollte schon lange nach Paris.
Aber wie kam es dazu? Ich erinnere es nicht einmal mehr genau.
Je näher das Ende meiner USA-Reise rückt, umso klarer wird Mark und
mir, dass wir uns begegnen müssen. Und wollen.
Er hat mich begleitet auf meinem Ritt über den Kontinent, mich
gestärkt und behütet, mich erheitert und meine Seele gestreichelt. Wir
sind uns nahe getreten. Sind zu einem täglichen Bestandteil des anderen geworden.
Was nun also, nach dem Ende der Reise, anfangen damit?
Wir sind uns einig, dass der Realitätscheck aussteht. Das
sind wir der Sache einfach schuldig.
Denn es ist keine Option, rein virtuell fortzufahren. Das verkäme
alsbald
zu einer Illusion. Oder wäre wenig nutzbringende Phantasie. In jedem Fall kaum
konstruktiv. Und sicherlich kein Leben.
Ebenfalls zieht keiner von uns in Erwägung, die Sache schlicht mit der Reise auslaufen zu lassen. Dafür sind wir
einander zu wichtig geworden. Dafür ist es zu schön zwischen uns.
Bleibt demnach allein: Der Realitätscheck. Besagter. Sollte die Sache ihn
nicht bestehen, wissen wir es wenigstens. Wissen zeitgleich, dass
sich unsere Bestimmung sowie unser Zeitfenster allein auf die
USA-Reise beschränkten. Und können letzteres friedlich schließen
hinter uns.
Ebenfalls einig sind wir uns darin, dass wir nicht lange warten
möchten mit einem Treffen. Hopp oder Top. Niemand fühlt sich dazu
berufen, eine Fiktion künstlich in die Länge zu ziehen. Dafür
bewegen wir uns beiderseits an zu bedeutsamen Lebenspunkten.
Auf der Suche nach einem geeigneten Treffpunkt beschließen wir, uns
einfach in der
Mitte zu treffen. Die Mitte zu bestimmen überlassen wir einer
Landkarte - Jena. Also Jena. Wir werden uns in
Jena begegnen. Eine Woche nach meiner Rückkehr.
'Jena ist Shit!' wird Mark ein paar Tage später bemerken. Also gut.
Wohin dann? Auf
der Suche nach einer Alternative - landen wir bei Paris. Irgendwie.
Ich habe vergessen wie. Einverstanden. Also Paris.
Mark überrascht mich kurze Zeit später mit seiner getätigten Buchung. Er hat
die Sache eingetütet. Dingfest gemacht. Einen Flug gebucht. Und zwar
ohne
Stornomöglichkeiten.
Nun bin also ich am Zug. Habe meine Worte in Taten umzusetzen. Recherchiere meinerseits nach Flügen.
Stelle fest, dass sie aufgrund der Kurzfristigkeit teuer geworden sind -
und lande schließlich bei einer Kombination aus Hinreise per City-Nightliner und
Rückreise per Flieger. Dank eines Spezialangebots kommt mich
diese Kombination letztlich günstiger als ein Hin- & Rückflug. Das
überzeugt mich. Es war schon immer mein Wunsch, einmal im Schlafwagen
zu reisen. Nun habe ich die Chance, ihn zu
verwirklichen. Zu besten Konditionen. Also buche ich.
Paris steht. Auch meinerseits. Mit der Buchung einer Unterkunft warte ich bis Berlin.
Mit der Ankunft in Berlin - und je näher die Parisreise rückt, kann ich
allerdings nicht mehr im geringsten nachvollziehen, was ich hier
eigentlich schon wieder fabriziere. Weshalb ich mich zu einem
Paris-Trip entschlossen habe. Eine Woche nach meiner Rückkehr. Und
schon wieder mit einem Fremden. Irgendwie habe ich sie doch nicht mehr alle.
Jetlag bis unter die Nasenspitze, seit ein paar Nächten endlich
einmal mein Bett für mich allein, gerade fünf Wochen mit einem bis
dato Unbekannten auf Reisen verbracht - die wir uns zum Schluss
gegenseitig erdolchen wollten - und jetzt gehe ich sofort in die
nächste Runde. Und das auch noch in Paris. WARUM?! In Teufels Namen.
Ich habe wiederholt keinen blassen Schimmer, was ich mir eigentlich
gedacht habe. Bei dieser Sache.
Erschwerend kommt hinzu - und zwar äußerst erschwerend - dass es
hier, bei der Parisnummer - nicht erstrangig um die Reise gehen
will. Wie dies in den Staaten der Fall war.
Diese Reise steht nun definitiv unter einem anderen Stern. Es ist ein Date. Und zwar ganz eindeutig. Ein Date, dass ich mich
eben einmal ein paar Hundert Euro sowie vier Tage meines Lebens kosten
lasse - dafür, um bereits nach ein paar Zehntelsekunde zu wissen, ob
dieses Ding überhaupt eine Chance bekommt. Oder auch nicht. Ob wir einander
sympathisch sind. Oder viel eher schreiend davonlaufen möchten. Aber schreiend
davonlaufen geht leider nicht. Vielmehr haben wir dann vier
Tage Paris an der Backe. Hallelujah.
Grandiose Idee, Saskia. Hast du wirklich spitze gemacht. Sag - hätte
es nicht einfach Jena sein können? Oder ein Café? Für diese
besagten Zehntelsekunden? Das ist einfach Wahnsinn. Pure Unvernunft.
Das kann man ja keinem Menschen erklären. Zumal ich es inzwischen
selbst nicht mehr verstehe.
Hinzu kommt, dass ich eigentlich nicht den geringsten Bock auf Dating habe. Weder
in Berlin, Jena, Paris - noch sonst irgendwo. Ich habe die
Schnauze schlichtweg voll davon, mich als vermeintlich freiverkäufliche Marktware zu
präsentieren, der Prüfung potentieller Abnehmer zu unterziehen - und
dämliche Gespräche zu führen. In denen effektiv abgeklärt werden
möchte, ob man
vielleicht denn kompatibel sein könnte. Und möchte. Ich will diesen Shit nicht mehr. Mit
keiner Wimper sogar. Bin dafür nicht zu haben. Nicht für diesen
Moment.
Warum fahre ich also nach Paris?
Weiterhin glaube ich kein bisschen daran, dass wir den Sprung vom Virtuellen
ins Reelle bewältigen werden. Es ist sogar mehr als unwahrscheinlich.
Ich kenne Online-Dating - und das zur Genüge - und weiß, wie groß
sich die
Diskrepanz zwischen Virtualität und Leben in dieser Hinsicht
meistens präsentiert.
Einmal mehr, wenn bereits eine virtuelle Vorgeschichte existiert
- und sich Erwartungen haushoch aufgetürmt haben. In der Realität muss so
manche Projektion unter Umständen weichen oder angepasst werden - und das gelingt häufig nicht.
Ich bemerke das wertfrei. Die Realität
ist nicht schlechter als das Virtuelle - sie ist einfach anders.
Mit diesen Überlegungen also trete ich meine Paris-Reise an. Bin
wenig hoffnungsfroh. Sondern vielmehr entsetzt über meinen
Entschluss. Mark
soll es nicht wirklich besser gehen. Denn auch er hat sich selbst von
hinten überholt. Uni sono fragen wir uns demnach, ob wir von
allen guten Geistern verlassen sind. Und gleichen in den letzten Tagen vor
unserer Paris-Reise wechselseitig einem Nervenbündel. Mal er. Mal
ich.
Sarkasmus hält mich inzwischen zu der Überlegung an, das Verlassen meiner Komfortzone künftig
einfach zu meiner präferierten Sportart
zu erheben - und außerdem jegliche Dates grundsätzlich auf andere Kontinente oder in andere Länder zu
verlegen. Immerhin komme ich auch auf diese Art zu meinen Reisen...
Aber mein Sarkasmus hilft mir nicht.
Alles, was mir jetzt hilft, ist Mut.
Lange Rede: Die Fahrt im 1.-Klasse-Schlafwagenabteil verläuft
phantastisch. Ich habe das Abteil für mich, lege mich mit dem Kopf
in Richtung Fenster, wiege mich im Ruckeln und den Geräuschen der Bahn,
schlafe tief, fest und träume, wache ein paar Mal nachts auf, schaue nach
draußen, in die nächtliche Landschaft, auf die Strecke, auf beleuchtete
Bahnhöfe, mache mich morgens fertig, bekomme Frühstück serviert,
liege die letzten 1 1/2 vor der Ankunft auf dem Bett und schaue aus dem
Fenster. Sehe Lavendelfelder vorbeiziehen, kleine französische
Dörfer, liebliche Landschaften - eine wundervolle Art des Reisens
und Ankommens. Auch
Paris wird mir auf Anhieb sehr gefallen, die Stadt der Liebe und der Lichter - den
ersten Tag verbringe ich allein und in Eigenregie, Mark wird erst am
Abend eintreffen.
Ich bin mir sicher - allein für die Zugfahrt und für Paris - hat sich diese Reise
bereits gelohnt. Ich bin im Frieden. Lasse mich einmal mehr von
der Weisheit meiner inneren Führung überzeugen. Davon, dass Courage belohnt
wird. Und dass alles besser ist, als frustrierte Lethargie und
ängstliche Passivität das eigene Leben dirigieren zu lassen. Eine
schöne Erfahrung. Die jedoch immer wieder herausfordern wird.
Und doch soll es noch gelungener kommen: Mark und ich verlieben uns in
Paris ineinander. Tatsächlich gelingt es uns nicht eine Nacht, dem
Magnetismus zwischen uns etwas entgegenzuhalten. Es ist intensiv. Es ist
schön. Es ist richtig.
Sehr schnell sind wir sehr vertraut miteinander. Und wo ich einen
Tag zuvor - noch im Vorfeld von Marks Ankunft - in der Metro hinter einem
jungen, eng ineinander verschlungenen Pärchen sitze, begleitet von den Gedanken,
dass ich niemals in meinem Leben soweit entfernt von
selbem war wie derzeit - und ähnliches vielleicht auch nie wieder erleben
werde, auch deshalb, weil ich an Nahbarkeit verloren habe - es
schmerzt mich nicht, ich stelle es schlicht fest - sitze ich am nächsten
Tag exakt genauso in der Metro. Ich kann es kaum glauben.
Das Leben ist absurd.
Wir werden vier wundervolle Tage in Paris verbringen. Lachend.
Knutschend. Freudig. Heiter.
Dann trennen sich unsere Wege fürs erste wieder. Er fliegt nach
Stuttgart. Ich nach Berlin.
Es ist traurig. Und es ist schön. Sehr schön sogar. Und dennoch habe ich Bedenken. An
vorderster Stelle stellt sich mir die Frage: Gibt es einen gemeinsamen
Platz zum Leben für uns?
Ich weiß nicht, ob ich auf Dauer in Deutschland bleiben möchte.
Bleiben kann. Geschweige denn nach Stuttgart ziehen möchte. Darüber
hinaus bin
ich kompromisslos geworden. Kompromisslos was meine Verpflichtung mir selbst gegenüber
- sowie die Koordinaten meiner Erfüllung betrifft.
We will see. Wir werden es herausfinden.
Und bis dahin genießen. Was wir miteinander teilen. Uns.
In zwei Wochen sehen wir uns wieder.
In Jena.